In «Romeo und Julia auf dem Dorfe» geht es hauptsächlich um den ruinösen Rechtsstreit der beiden verfeindeten Vätern der Hauptprotagonisten Vrenchen und Sali. Die beiden Charaktere befinden sich in einer unmöglichen Liebesbeziehung und sterben schliesslich an den Folgen der Beziehung. Nicht die Standesunterschiede der Charaktere selbst, sondern die Intervention der Gesellschaft und der familiären Hierarchie führen zum Scheitern der Beziehung.
«Die Kindermörderin» beginnt mit der Verführung des bürgerlichen Evchens. Lieutenant Grönigseck zögert nicht mit seinem Eheversprechen. Doch die Doppeldeutigkeit des Liebesvertrags führt schon bald zum Liebesverrat, denn die Ehe wird vom adligen Grönigseck und dem bürgerlichen Evchen unterschiedlich intrepretiert. Die unterschiedliche Interpretation führt hin und wieder zum Liebesvertragsmissbrauch. So ist es nicht erstaunlich, dass dem Paar das nötige Vertrauen fehlt. Ihre Beziehung scheitert am Vertrauensmangel, aber die gesellschaftliche und familiäre Hierarchie haben durchaus einen grossen Einfluss auf den Beziehungsverlauf.
Im folgenden Text sollen die beiden Werke auf die folgende Frage verglichen werden: Welchen Einfluss haben die gesellschaftlichen Strukturen auf die Beziehung der Liebenden und wie wirkt sich die Gesellschaft auf das Handeln der Liebenden aus?
In «Romeo und Julia auf dem Dorfe» begehen beide Charaktere Suizid. «Die Kindermörderin» endet mit der höchstwahrscheinlichen Verurteilung Evchens zur Kindermörderin. Explizit stirbt jedoch niemand. Die Thematik des Kindesmords war in der Epoche des Sturm & Drangs sehr verbreitet. Tod durch Verurteilung ist anders zu deuten als Tod durch Suizid. Im Sturm & Drang gibt es auch «Helden» die nur noch den Suizid als einzigen Ausweg ihrer Probleme sehen. (vgl. «Die Leiden des jungen Werthers») Vrenchen und Sali begehen zwar Suizid, aber dieser ist nicht aussichtslos. Die beiden könnten schliesslich mit dem schwarzen Geiger mitgehen, entschliessen sich aber bewusst dagegen, weil eine Ehe ohne das elterliche Segen für sie unmöglich ist. Hier wird die kritische Haltung des Autors gegenüber dem christlichen Glauben und der bürgerlichen Ehe sichtbar. Im Realismus ist solch «versteckte Kritik» durchaus üblich. Im Realismus wird sowohl die Religion als auch die Ständegesellschaft stark in Frage gestellt.
Bei Vrenchen und Sali ist nicht mehr von gesellschaftlichen Ständen oder von der Doppeldeutigkeit eines Liebesvertrags die Rede. Die beiden Charaktere teilen die gleichen Wertevorstellungen. Evchen und Grönigseck hingegen nicht. Evchen wurde streng bürgerlich erzogen. Sehr prägend für die Erziehung ist ihr Vater. Dieser hat sehr spezifische Vorstellungen davon, was eine bürgerliche Tochter machen darf und was nicht. «…für die mag es ein ganz artiges Vergnügen sein; wer hat was dar wider? – Aber Handwerksweiber, Bürgerstöchter sollen die Nase davon lassen.» (Die Kindermörderin, Seite 22) Seiner Meinung nach braucht es klare Grenzen in einer Ständegesellschaft, weshalb er die Beziehung zwischen seiner Tochter und Grönigseck nicht unterstützt. Evchen pflegt eine enge Beziehung zu ihrem Vater, wodurch ihr seine Meinung sehr wichtig ist. Das erkennt man am mangelnden Vertrauen Evchens in Grönigseck. Auch wenn sie es vielleicht nicht realisiert, wird Evchens Meinung gegenüber dem Adel stark von ihren Eltern beeinflusst. Ihr Mistrauen ist verständlich; macht man einem Kind das ganze Leben lang vor, eine Tomate sei grün, dann wird es das auch glauben.
Die Väter Vrenchen und Salis sind sich sowohl optisch als auch in ihrer Verhaltensweise sehr ähnlich. Es wird schnell klar, dass es sich bei ihrem Streit viel mehr um die Ehre, als nur um ein Stück Land geht. Die beiden Kinder verhalten sich analog zu ihren Vätern. Die «Ehre der Familie» und das Segen der beiden Väter ist ihnen wichtig. Eine Heirat ohne das väterliche Segen kommt für sie gar nicht in Frage.
Sowohl die Gesellschaft als auch die familiäre Hierarchie und der Respekt zwischen Vater und Kind haben einen Einfluss auf die Erziehung der Charaktere. Je nach Erziehung handeln die Kindern unterschiedlich. Das bleibt in solchen Liebesbeziehungen wie in «Die Kindermörderin» oder «Romeo und Julia auf dem Dorfe» nicht unbemerkt. Im Vergleich zum Sturm & Drang hat die Gesellschaft im Realismus einen deutlich kleineren Einfluss auf das Handeln der Liebenden. Die familiäre Hierarchie und zusätzlich der «Ehrbegriff» bleiben jedoch in beiden Epochen zentrale Themen.
Quellen:
Wagner, H.L.: «Die Kindermörderin», Stuttgart, Reclam Universal-Bibliothek, 2014, Seite 22
Keller, Gottfried: «Romeo und Julia auf dem Dorfe», Stuttgart, Reclam Universal-Bibliothek, 2022
Goethe, Johann Wolfgang: «Die Leiden des jungen Werther», Frankfurt am Main, Suhrkamp BasisBibliothek 5, 15. Auflage 2021